Gusen

Chaostage und Lynchjustiz

Angehörige der 11. Panzerdivision mit befreiten KZ-Häftlingen in Linz, 7. Mai 1945. (Foto: US Signal Corps Foto; Courtesy of NARA)Angehörige der 11. Panzerdivision mit befreiten KZ-Häftlingen in Linz, 7. Mai 1945. (Foto: US Signal Corps Foto; Courtesy of NARA)„Man kann behaupten, [...] dass das Lager Gusen aufgelöst sei. Alles im Lager ist geplündert. So ist in den Speichern von 250.000 Tonnen [Anm.: richtig vermutlich Kilogramm] Kartoffeln nur noch eine Tonne vorhanden. [...] Zur Zeit würden viele [Häftlinge] bewaffnet auf Linz zu marschieren, wo sie alles ausplündern. Man habe vergebens versucht, die Moral der Zurückgebliebenen zu heben.“

Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Internationalen Aktionskomitees des Lagers Mauthausen, 6. Mai 1945 (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien).

Nachdem die amerikanischen Befreier mit den gefangenen Wachmännern der Feuerschutzpolizei wieder abgezogen waren, entstand im befreiten Lager Gusen ein Machtvakuum, dessen Folgen in der Zeit von 5. Mai abends bis zur Ankunft der neuen US-Militärverwaltung am späten Nachmittag des 6. Mai sowohl innerhalb der Häftlingsgesellschaft als auch in der regionalen Umgebung ihre Spuren hinterließen.
Einige Tage bevor die von den alliierten Befreiern ausgelöste „Flut der Bilder“ vom Lager einsetzt, bleibt dieser Abschnitt in der Geschichte des Konzentrationslagers Gusen weitgehend im Dunkeln. Er ist heute hauptsächlich in den Erinnerungen der Überlebenden dokumentiert.

Auszug aus der Chronik des Gendarmeriepostens St. Georgen an der Gusen betreffend Vorfälle am 5. Mai 1945, Seite 1 Auszug aus der Chronik des Gendarmeriepostens St. Georgen an der Gusen betreffend Vorfälle am 5. Mai 1945, Seite 1 Innerhalb eines Tages verließ – entgegen der über Funk durchgegebenen Anordnung General Eisenhowers – die Mehrheit der ca. 21.000 Häftlingen, die am 5. Mai 1945 in Gusen noch zum Appell erschienen waren, das Lager auf der Suche nach überlebensnotwendiger Nahrung und Verpflegung. Nur mehr etwa 3000, hauptsächlich Kranke und Schwache, waren am Tag des 6. Mai noch im Lager verblieben. Einige Gruppen befreiter Häftlinge, zum Teil bewaffnet, gelangten bis nach Linz, wo sie auf die Tags zuvor dort einmarschierten Truppen der 11th Armored Division trafen.Nach dem Abzug der Wachmannschaften aus Gusen begann für viele Häftlinge die Zeit der Rache an den im Lager verbliebenen „Kapos“.
Das Herrschaftssystem der SS in den Konzentrationslagern sah die Delegierung ihrer Macht an ausgewählte „Funktionshäftlinge“, im Lagerjargon „Kapos“ genannt, vor. Aufgaben im Verwaltungsbereich wurden ebenso von Funktionshäftlingen übernommen wie Bewachungsaufgaben, an die oftmals mit äußerster Brutalität herangegangen wurde. Diese Häftlinge lebten zumeist zwischen den Fronten: Einerseits garantierte ihnen ihre Funktion – solange sie in der Gunst der SS standen – ein relativ gesichertes Überleben. Andererseits entfremdeten sie sich aber gerade dadurch vom Rest der Häftlinge. Sie konnten außerdem ihre Stellung zum Schutz der Mithäftlinge ebenso einsetzen wie zur brutalen Durchsetzung ihrer eigenen Interessen.

Auszug aus der Chronik des Gendarmeriepostens St. Georgen an der Gusen betreffend Vorfälle am 5. Mai 1945, Seite 2 Auszug aus der Chronik des Gendarmeriepostens St. Georgen an der Gusen betreffend Vorfälle am 5. Mai 1945, Seite 2 In der Zeit von 5. bis 6. Mai kam der lange Zeit unterdrückte Hass auf „die Kapos“ explosionsartig zum Ausbruch. Funktionshäftlinge, von denen nicht alle sich Verbrechen an ihren Mithäftlingen schuldig gemacht hatten – wurden in dieser Zeit von einem aufgebrachten Häftlingsmob getötet.

Aus dem Erinnerungsbericht von Boris Bekeš über Ereignisse am 5. Mai 1945:

„Meine Aufmerksamkeit hat dem Schreien und dem Lärm in der Stube gegolten. Die Russen haben den Blockältesten in den Raum geschleppt, der mit den Häftlingen sehr grob umgesprungen war und sie wegen jeder Kleinigkeit verprügelt hat, insbesondere die Häftlinge nichtdeutscher Nationalität. Sie rissen ihm die Kleider hinunter, gaben ihm Hiebe und Stöße. Jeder wollte seinen Zorn an ihm ein bisschen kühlen. Schließlich erfasste ein junger Russe einen Stuhl und schlug ihm mit voller Gewalt auf den Kopf, sodass der Mann niederfiel und sich nicht mehr rührte. 

Es war bereits finster, als Rudi und Hadschi zurückkehrten. Sie sagten, dass sie in einem Block gewesen wären, wo die Mehrheit Polen waren. Ein Pole hat den Kapo Marjan mit einem Messer erstochen, der zusammen mit uns in Steyr gewesen und ein ganz anständiger Bursche war; als er Kapo wurde, zeigte er alle Qualitäten, die eben ein Kapo haben muss. Er war ein Pole und auch gegenüber seinen Landsleuten ging er genauso grob vor wie gegen die anderen. Einer seiner Landsleute hat ihn mit solcher Gewalt ein Messer in die Brust gerammt, dass er ihn wortwörtlich an das Bett genagelt hat. 

Unseren Stubenältesten haben die Russen mit dem Kopf in ein Fass gesteckt, das Wasser war für den Fall einer Feuersbrunst vorbereitet. Einige Zeit hat er mit den Füßen Stöße ausgeführt und gezappelt, dann wurde er ruhig und die Beine fielen über das Fass hinunter.“